Wie strukturelle Hürden politische Teilhabe einschränken – und was sich ändern muss

Um zu verstehen, warum Frauen, Menschen mit Migrationsgeschichte, junge Menschen oder Menschen mit Behinderung in Parlamenten und in politischen Ämtern deutlich unterrepräsentiert sind, müssen wir die Rahmenbedingungen in den Blick nehmen, die politische Teilhabe ermöglichen – oder erschweren. Klar ist: Es sind häufig strukturelle Gründe, die beeinflussen, wer überhaupt realistische Chancen hat, in die Politik zu gehen und erfolgreich ein Mandat oder Amt zu übernehmen.
Straße mit Schild zum Rathaus und Vorfahrtsschild

Politische Teilhabe ist nicht neutral

Die Möglichkeiten für politische Beteiligung sind nicht für alle gleich. Wer sich politisch engagieren möchte, bringt ganz unterschiedliche Hintergründe mit – sozial, beruflich und familiär. Politik ist aber oft noch sehr traditionell: Etwa werden ständige Einsatzbereitschaft und Anwesenheit bei Sitzungsterminen erwartet und vorausgesetzt. Anders als in der Wirtschaft sind Vertretungsregelungen, etwa für Elternzeiten, in der Politik kaum etabliert bzw. rechtlich nicht zulässig. Zudem spielen über Jahre gewachsene Netzwerke eine wichtige Rolle für eine politische Karriere. Diese Netzwerke sind häufig männlich dominiert und schließen viele andere Menschen aus.

Politik steht somit nicht automatisch allen offen. Sie ist von bestehenden gesellschaftlichen Machtstrukturen geprägt, die bestimmte Gruppen bevorzugen und andere benachteiligen. Darum ist politische Teilhabe nicht neutral, sondern spiegelt bestehende Ungleichheiten wider.

Entscheidende Stellschrauben

Zeitliche Anforderungen und Vereinbarkeit

Nach wie vor prägen traditionelle Rollenbilder und Geschlechterstereotype den Alltag vieler Frauen. Sie übernehmen überdurchschnittlich häufig die familiäre Sorgearbeit und sind dadurch zeitlich stärker eingebunden. Politisches Engagement, vor allem in der Kommunalpolitik, erfolgt meist ehrenamtlich und findet häufig in den Abendstunden statt. Für viele Frauen ist das eine doppelte Hürde – insbesondere, wenn gleichzeitig Kinder betreut werden müssen oder das Haushaltseinkommen knapp ist.

Viele Menschen können sich daher erst nach einer Familienphase oder erst im Rentenalter politisch engagieren, weil sie dann mehr Freizeit haben. Das führt dazu, dass (Kommunal)politik oft von älteren Menschen gemacht wird. Das wirkt sich auch auf politische Entscheidungen aus, welche die Perspektiven und Erfahrungen von etwa jungen Menschen nicht berücksichtigen.

Parteistrukturen und Zugänge zu politischen Ämtern und Mandaten

Entscheidend ist, wie die Partei Kandidierende auswählt und vorschlägt:  Wer aufgestellt wird – das hängt oft nicht allein von fachlicher Eignung ab, sondern von parteiinternen Beziehungen, Bekanntheit und Präsenz. Intransparente Auswahlverfahren, die kaum Möglichkeiten für Quereinsteiger*innen oder Neumitglieder lassen, begünstigen dabei meist die, die schon gut vernetzt sind – in der Regel Männer, die bereits lange aktiv sind.

Frauen kandidieren zwar durchaus, werden aber häufig auf den hinteren und damit weniger aussichtsreichen Listenplätzen oder in Wahlkreisen mit geringen Erfolgschancen aufgestellt. Somit sind Frauen – selbst bei nomineller Gleichverteilung – benachteiligt.

Deutlich wird dies auch beim Vergleich zwischen Listen- und Direktkandidaturen: Während Frauen bei Listenaufstellungen teils durch parteiinterne Regelungen wie Reißverschlussverfahren – wo jeweils eine Frau und ein Mann abwechselnd aufgestellt werden – sichtbarer sind, ist ihr Anteil bei Direktkandidaturen in der Regel deutlich niedriger. Dort, wo es um unmittelbare Wahlerfolge geht und die öffentliche Präsenz besonders hoch ist.

Auch die sogenannte „gläserne Decke“ innerhalb von Parteien erschwert den Aufstieg in Führungspositionen: Frauen übernehmen zwar häufig Verantwortung in der Basisarbeit, sind aber seltener in Vorstandsgremien, Fraktionsspitzen oder bei der Kandidatenaufstellung für aussichtsreiche Plätze vertreten.

Parteien können einen wichtigen Beitrag leisten, Kommunalpolitik zu verbessern und zu erneuern. Doch solange ihre internen Strukturen und Auswahlmechanismen nicht aktiv auf Vielfalt und Teilhabe ausgerichtet sind, bleiben Spitzenämter für viele Menschen schwer zugänglich.

Vorbilder

(Weibliche) Vorbilder spielen eine große Rolle, wenn es darum geht, andere Frauen und andere unterrepräsentierte Menschen für die Politik zu gewinnen. Denn wer kaum jemanden sieht, der*die einem selbst ähnelt, empfindet politische Räume oft als nicht für sich gemacht – und zögert, Verantwortung zu übernehmen oder überhaupt zu kandidieren. Fehlende Repräsentation wirkt somit nicht nur als Symptom, sondern auch als Ursache struktureller Ungleichheit: Sie verstärkt den Eindruck, dass bestimmte Gruppen nicht dazugehören – und hält so viele davon ab, sich einzubringen.

 

Frau im Rollstuhl vor Whiteboard

Politische Kultur und gesellschaftliche Zuschreibungen

Politik wird häufig mit Durchsetzungsstärke, rhetorischer Dominanz und Konfliktfreude assoziiert. Das prägt den politischen Alltag: Der Umgangston ist oftmals rau und wird rauer, wie aktuell häufig berichtet wird. Frauen werden öfter unterbrochen, Kritik respektloser geäußert und Redebeiträge werden öfter nicht so ernst genommen, wie die von Männern. Das schreckt ab – nicht nur Frauen, sondern alle Menschen, die einen sachlicheren, kooperativen oder lösungsorientierten Stil bevorzugen.

Vorurteile gibt es auch bei politischen Inhalten: Frauen wird eher unterstellt, dass sie sich für Themen wie Soziales oder Familienpolitik interessieren und ihnen wird häufiger die Kompetenz für andere Politikbereiche und Ressorts abgesprochen – Politikerinnen müssen sich insgesamt mehr anstrengen und „ihre“ Themen werden oft nicht ernst genommen.

Frauen erleben also Sexismus in der Politik und es fehlt ihnen an Vorbildern, Netzwerken und anderen Unterstützungssystemen. Zusätzlich trauen Frauen sich selbst und anderen Frauen weniger zu – die Entscheidung, ein politisches Amt zu übernehmen, fällt schwerer. An Politikerinnen gibt es hohe Erwartungen, die auch auf Klischees basieren: Sie müssen freundlich sein, gute Leistung zeigen und dabei immer „gut aussehen“ – aber nicht zu gut, denn dann werden sie nicht mehr ernst genommen.

Frauen sowie Menschen mit marginalisierten Positionierungen sind gleichwohl häufiger sexistischen, rassistischen oder anderen diskriminierenden Zuschreibungen ausgesetzt. Solche Erfahrungen können sich psychisch belastend auswirken und den Schritt in die Öffentlichkeit erheblich erschweren.

Soziale und finanzielle Ressourcen

Politisches Engagement setzt oft Zeit, Geld und Bildung voraus. Ressourcen, die in der Gesellschaft ungleich verteilt sind. Menschen mit prekären Lebensbedingungen, unsicherer Erwerbsarbeit oder wenig institutioneller Unterstützung können sich daher seltener politisch engagieren.

Auch soziale Unterstützungsnetze sind relevant. Wer zum Beispiel eine Großmutter, einen Nachbarn oder eine Freundin hat, die spontan einspringen, wenn abends eine Sitzung ansteht, ist im Vorteil. Diese „unsichtbare Unterstützung“ ist eine Hilfe, die nicht allen zur Verfügung steht. Auch Kosten rund um die politische Arbeit hindern politisches Engagement:

  • Wahlkampf kostet Geld: Druckkosten für Flyer und Plakate, Reisekosten zu Veranstaltungen, professionelle Fotos oder eine eigene Website – all das muss in der Regel privat oder über Spenden finanziert werden.
  • Ehrenamt ist oft unbezahlt: Politische Ausschüsse oder kommunale Gremien sind meist ehrenamtlich organisiert. Die Teilnahme kostet Zeit – und damit im Zweifel Einkommen oder Freizeit.
  • Kleidung und Auftreten: Wer als politische Vertreterin öffentlich auftritt, steht auch unter Erwartungsdruck hinsichtlich Kleidung, Sprache und Auftreten – auch das kann mit Kosten oder Verunsicherung verbunden sein

 

Blaue Stühle im Bundestag in Berlin

Anerkennung und gesellschaftlicher Umgang mit politischem Engagement

Kommunalpolitisches Engagement erfährt zu wenig gesellschaftliche Wertschätzung. Viele Amts- und Mandatsträger*innen engagieren sich neben ihrem Hauptberuf, häufig in den Abendstunden oder am Wochenende, und erhalten für dieses Ehrenamt nur eine geringe Aufwandsentschädigung. Gerade kommunale Verantwortungsträger*innen tragen eine enorme Last: Bürgermeisterinnen etwa sind zuständig für ein breites Themenspektrum – von Hochwasserschutz über Schulentwicklung bis hin zur Unterbringung von Geflüchteten. Sie müssen sich nicht nur in unterschiedlichste Fachthemen einarbeiten, sondern auch komplexe Entscheidungen treffen und sie öffentlich vertreten.

Viele dieser Themen – Migration, Klimaanpassung, Bildung, Sicherheit – sind gesellschaftlich hoch aufgeladen und polarisieren. Die politischen Vertreter*innen vor Ort stehen dabei oft in der ersten Reihe: Sie werden persönlich mit gesellschaftlichen Spannungen konfrontiert, die sich in Anfeindungen, verbalen Angriffen oder sogar Bedrohungen entladen. Besonders betroffen sind Frauen sowie Personen, die ohnehin häufiger Diskriminierung erfahren.

Handlungsempfehlungen und weiterführende Informationen

Politische Teilhabe wird oft als individuelle Entscheidung angesehen – als Frage von Interesse, Engagement oder politischem Willen. Doch dieser Blick greift zu kurz. Wer sich politisch einbringen möchte, trifft auf Rahmenbedingungen, die nicht für alle gleich offen oder zugänglich sind. Zeitliche Anforderungen, parteiinterne Strukturen, gesellschaftliche Erwartungen und finanzielle wie soziale Ressourcen beeinflussen maßgeblich, wer überhaupt teilhaben kann – und wer nicht. Vielfalt in der Politik entsteht nicht von allein. Sie braucht bewusst gestaltete Strukturen, die unterschiedliche Lebensrealitäten berücksichtigen und politische Teilhabe für alle ermöglichen.

Um mehr Frauen für die Politik zu gewinnen und langfristig zu halten, gibt es zahlreiche Ansatzpunkte:

  • Eine parteiinterne Kultur des Respekts, aktive Ansprache und Willkommenskulturschaffen Vertrauen, senken Einstiegshürden und fördern eine breitere Beteiligung.
    EAF Berlin (2021):Parteikulturen und die politische Teilhabe von Frauen
  • Verbindliche Frauenquoten sind ein wirksames Instrument, um Geschlechtergerechtigkeit in Parteien und politischen Gremien systematisch zu fördern. Parteien müssen Frauen gezielt ansprechen, fördern und auf aussichtsreichen Listenplätzen oder in aussichtsreichen Wahlkreisen positionieren, um echte Teilhabechancen zu ermöglichen.
    Berliner Erklärung: Deutschlandweites Bündnis für Gleichstellung
    Friedrich-Ebert-Stiftung (2022): Frauen MACHT Berlin! Politische Teilhabe von Frauen in Berlin
  • Gleichstellungsbeauftragte spielen eine zentrale Rolle bei der Förderung von Chancengleichheit in der politischen Arbeit. Sie begleiten Veränderungsprozesse, initiieren strukturelle Reformen und fungieren als neutrale Instanzen, um bestehende Ungleichheiten sichtbar zu machen und gezielt anzusprechen. Durch ihre Arbeit tragen sie maßgeblich dazu bei, die Gleichstellung von Frauen und Männern in politischen Gremien zu stärken und eine inklusive Entscheidungsfindung zu fördern.
    Befragung von Mandatsträgerinnen im Stadtparlament
    Best Practice: Sensibilisierung der Öffentlichkeit
  • Mentoring-Programme, starke (parteiinterne) Netzwerke sowie sichtbare weibliche Vorbilder bieten Orientierung, stärken Selbstvertrauen und erleichtern den Einstieg in die politische Praxis.
    Best Practice: Mentoring
  • Netzwerke fördern Frauen in der Politik durch Austausch, Sichtbarkeit und gegenseitige Unterstützung. Besonders der Peer-Ansatz – also Lernen auf Augenhöhe – stärkt das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Ermutigung und Wissenstransfer unter Gleichgesinnten helfen, Barrieren zu überwinden und politische Teilhabe nachhaltig zu stärken.
    Praxisleitfäden zum Einstieg in die Politik
    Bedeutung von Netzwerken
  • Verhaltenskodizes und klare Regelwerke für Ratsarbeit schaffen verbindliche Standards für einen respektvollen Umgang und können dabei helfen, Diskriminierung, Sexismus oder übergriffiges Verhalten frühzeitig zu erkennen und wirksam zu begegnen.
    Best Practice: Verhaltenskodex
    Körber-Stiftung. Mehr Respekt, bitte!
  • Eine inklusive politische Kultur berücksichtigt unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen – und sorgt so dafür, dass sich mehr Menschen mit ihren Lebensrealitäten vertreten fühlen.
    Intersektionalität in der Politik
  • Schutz vor Diskriminierung – insbesondere vor Hass, Hetze oder sexistischer Anfeindung – ist essenziell, um politisches Engagement für alle sicher und möglich zu machen.
    Hass & Hetze begegnen
    Studie: Engagement von Frauen in der Kommunalpolitik in Sachsen
  • Familienfreundliche Rahmenbedingungen wie flexible Sitzungszeiten oder Vertretungsregelungen erleichtern die Vereinbarkeit von politischem Engagement mit Care-Arbeit und Beruf.
    Studie: Mit Kind in die Politik
    Best Practice: Redezeiten begrenzen
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Ein Projekt der EAF Berlin in Kooperation mit dem Deutschen LandFrauenverband