
Intersektionalität und Vielfalt
in der Politik
Wer vertritt wen?
Repräsentation und Intersektionalität in der Politik
Die Parlamente in Deutschland sind in deskriptiver Hinsicht nur bedingt repräsentativ für die Bevölkerung. So sind einige Gruppen wie ältere Männer deutlich überrepräsentiert, wohingegen andere Menschen kaum vertreten sind. Hierbei spielen prinzipiell unendlich viele Kategorien eine Rolle, sodass ein Parlament nie eine 1:1-Abbildung der Bevölkerung sein kann. Und dennoch: Wenn bestimmte Gruppen systematisch fehlen oder es keine Angaben über ihre Repräsentanz gibt, deutet das darauf hin, dass ihrer politischen Beteiligung gesellschaftlich weniger Bedeutung beigemessen wird. Eine zentrale Rolle spielen dabei die politischen Parteien: Sie bestimmen bei der Aufstellung von Kandidat*innenlisten maßgeblich mit, wer Zugang zu politischen Ämtern erhält. Wenn Parteien Vielfalt nicht aktiv fördern, verfestigen sie bestehende Ungleichgewichte – bewusst oder unbewusst.
Frauen sind auf allen politischen Ebenen unterrepräsentiert. Im 21. Bundestag ist der Frauenanteil wieder leicht gesunken und beträgt 32,4 %, obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung in Deutschland 51,4 % ausmacht.1 Auch in den Länderparlamenten und auf der kommunalen Ebene (Kreistage und Vertretungen in kreisfreien Städten) bewegt sich der Frauenanteil seit Jahren in den unteren 30 % (durchschnittlich 33,8 % in den Landtagen, 30,5 % in den kommunalen Vertretungen). Nur etwa jedes siebte Rathaus wird von einer Bürgermeisterin geführt.2
Ebenso sind Menschen mit statistischem Migrationshintergrund in der Politik proportional deutlich weniger vertreten als in der Gesamtbevölkerung, wo ihr Anteil ca. 29,7 % ausmacht. Im Bundestag sind in der 21. Legislaturperiode 11,6 % Menschen mit Migrationsbiografie vertreten3, in den Landtagen sind es durchschnittlich sogar nur 7,3 %5. In den Großstädten ist ihr Anteil mit durchschnittlich 13 % höher; für Kommunalpolitiker*innen in ländlichen Gegenden gibt es aktuell keine Daten, aber hier kann wiederum ein geringerer Anteil vermutet werden.
Menschen mit Hochschulabschluss und Berufsgruppen wie bspw. Jurist*innen sind in der Politik auf allen Ebenen überrepräsentiert.4 Über alle Parteien hinweg haben rund 70 % der Politiker*innen studiert.5 Damit fehlen Menschen und entsprechende Perspektiven von Personen, die eine klassische Berufsausbildung oder keinen (anerkannten) Abschluss haben und häufiger geringere Einkommen haben bzw. von Armut betroffen sein können.
Religiöse Vielfalt findet sich in der politischen Landschaft kaum.6 Das kann insbesondere ein Problem werden, wenn religiöse Feiertage bei der Planung gesamtgesellschaftlicher Ereignisse ungleich berücksichtigt werden. So z. B. als die Abiturprüfungen in Nordrhein-Westfalen 2023 auf einen der wichtigsten muslimischen Feiertage, das Zuckerfest, verschoben wurden.7
Viele andere potentielle Diskriminierungsmerkmale (insbesondere nicht sichtbare) werden statistisch kaum bzw. höchstens auf freiwilliger Basis erfasst. Es handelt sich dabei um sensible Daten und Betroffene haben oft berechtigte Sorgen vor Diskriminierung, schlechteren Karrierechancen oder konkreten Bedrohungsszenarien. So wird bspw. die (offen gelebte) sexuelle Orientierung eher selten erhoben. Auf der kommunalen Ebene wird sie zudem oft weniger öffentlich thematisiert als auf der Bundesebene.8
Auch für andere Kategorien wie z. B. für den Anteil der Menschen mit Behinderung sind statistische Angaben kaum zu finden. Christian Schmidt (Bündnis 90/Die Grünen) gehörte dem 10. Bundestag (1983 – 1987) an, allerdings konnte er nicht am Redepult sprechen, weil das Bundeshaus und die technischen Einstellungen nicht barrierefrei waren. Und es dauerte bis 2024, bis die erste gehörlose Bundestagsabgeordnete, Heike Heubach (SPD), die erste Rede in Gebärdensprache im Bundestag hielt.
Intersektionalität in der Kommunalpolitik?
Menschen identifizieren sich in der Regel mit verschiedenen Identitäten und Rollen bzw. fühlen sich je nach Kontext bestimmten Gruppen zugehörig oder von ihnen ausgeschlossen. So sieht sich eine junge Mutter bspw. sowohl als Frau, als junger Mensch und als Mutter. Darüber hinaus kann sie aber auch eine Migrationsbiografie haben und/oder im Laufe ihres Lebens eine chronische Erkrankung und/oder eine körperliche Behinderung erfahren. Das Beispiel verdeutlicht, dass Identitätskategorien sich mit den jeweiligen Lebensumständen wandeln können. Als Angehörige*r mehrerer Gruppen, die unterschiedliche Formen der Diskriminierung erfahren, ist es nicht immer leicht, die Ursachen von Diskriminierung zu erkennen und die Hebel zu finden, um sie umfassend zu beseitigen. Doch genau hier kommt das Konzept der Intersektionalität zum Tragen. Schon lange bevor es dafür Bezeichnungen gab oder es öffentlich verhandelt wurde, existierten sich überschneidende Diskriminierungserfahrungen als gelebte Realität. Als definiertes Konzept gelang es nach und nach, sprachlich beschreibbar zu machen, wie Menschen mehrere gleichzeitige Diskriminierungserfahrungen in ihrem Alltag erleben.
Intersektionalität wurde zwischen 1980 und 1990 begrifflich von Kimberlé Crenshaw entwickelt und hat weltweit den Diskurs geprägt. Crenshaw ist eine Schwarze US-amerikanische Juristin und Bürgerrechtlerin. Sie verdeutlichte die im Antidiskriminierungsrecht übersehene Mehrfachdiskriminierung von Schwarzen Frauen. Denn vor der Entstehung des Konzeptes der Intersektionalität gab es in den USA keinen Rechtsweg, um Diskriminierung sowohl wegen des Geschlechts als auch wegen der Hautfarbe gleichzeitig kenntlich zu machen.9

Der englische Ausdruck intersectionality leitet sich von dem Wort intersection (Straßenkreuzung, Schnittmenge oder Überschneidung) ab. Intersektionalität wird verwendet, um die verschiedenen Ebenen zu verdeutlichen, auf denen sich Identitätsmerkmale als Basis für Diskriminierungen überschneiden können. Ein Ziel der Nutzung des Konzepts der Intersektionalität ist es, dafür zu sensibilisieren, dass Menschen nicht (nur) aufgrund eines bestimmten Merkmals Diskriminierung erfahren, sondern sich diese Form der Diskriminierung mit anderen Identitätsmerkmalen – und damit potenziellen Diskriminierungsursachen – überkreuzen kann. Wenn bspw. ein Mensch im Rollstuhl mit geringen Englischkenntnissen an einer internationalen Konferenz nicht teilnehmen kann, weil weder eine Übersetzung in andere Sprachen noch Barrierefreiheit angeboten werden, verdeutlicht das, dass nicht automatisch diverse Bedürfnisse und Zielgruppen mitgedacht werden, nur weil sie prinzipiell eingeladen sind.10
Das Beispiel zeigt auch, dass wir (meist unbeabsichtigt) Schwierigkeiten haben, verschiedene Gruppen und mögliche Barrieren für sie gleichzeitig zu denken. Die Erfahrungen und Bedürfnisse von betroffenen Menschen werden von nicht betroffenen Gruppen seltener wahrgenommen und bleiben damit oft unsichtbar. Das führt wiederum dazu, dass ihre spezifischen Perspektiven und Interessen unberücksichtigt bleiben und sie in Entscheidungen nicht angemessen adressiert werden.
Power-Sharing
Im Konzept der Intersektionalität nimmt Macht in all ihren Formen eine große Rolle ein. Um Ungleichheit zu überwinden, die durch Diskriminierung verursacht wird, benötigen alle Menschen in der Gesellschaft Zugang zur Teilhabe. Denn es ist eine Frage der Macht, wessen Interessen als legitim angesehen werden und wem zugehört wird. Deshalb muss Teilhabe nicht nur als passive Erlaubnis zum Mitmachen verstanden werden, sondern als aktive Beteiligung, in der ein demokratischer Interessenausgleich durch Mitbestimmung ermöglicht wird. Dies erfordert ein Umdenken auf institutioneller Ebene ebenso wie bei den Menschen, die diese gestalten.
Macht sollte auf allen politischen Ebenen gemeinsam ausgeübt werden (sogenanntes Power-Sharing). Wer Macht teilt, stärkt ihre Legitimität. Nur wenn politische Entscheidungen die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln, bleiben sie auf Dauer tragfähig und akzeptiert. Macht abzugeben bedeutet nicht, Einfluss zu verlieren – sondern ihn zukunftsfähig zu gestalten. Dazu zählt insbesondere auch, Macht an Menschen aus unterrepräsentierten Gruppen abzugeben, vor allem bei Kompetenzbereichen, Zuständigkeiten und Funktionen, für die sie nicht automatisch als Expert*innen gehalten werden. Frauen werden oft automatisch bei Gleichstellungsthemen als zuständig angesehen, Menschen mit Migrationsbiografie bei Integrationsthemen. Vielfach überschneiden sich Interessen und Kompetenzen zwar aufgrund der Erfahrungen und Expertise, die betroffene Menschen aufgebaut haben. Allerdings führt die Besetzung von Positionen auf diese Art und Weise schnell zur sog. Tokenisierung, einer Art Alibi- und Vorzeigefunktion, die oft ohne tatsächliche Veränderungsmacht bleibt. Letztlich müssen aber auch Führungsrollen oder Bereiche, die ggf. nicht automatisch mit einer marginalisierten Gruppe, sondern explizit mit Macht verbunden sind, geteilt werden: Es braucht die Perspektiven von marginalisierten und diskriminierten Menschen in den Leitungspositionen von Parteien und Ministerien oder in Finanz- und Sicherheitsfragen.
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